Urlaub: Ein Menschenrecht

Urlaub: Ein Menschenrecht
Urlaub: Ein Menschenrecht
 
»Jeder Mensch hat Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub.« Zum ersten Mal in der Geschichte wird mit Artikel 24 der 1948 als Resolution von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedeten »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« ein universeller Anspruch auf Urlaub zum Gegenstand einer internationalen Übereinkunft. Eine bindende Wirkung besteht für die Unterzeichnerstaaten jedoch nicht; seitdem werden die Bemühungen auf der internationalen Ebene fortgesetzt, die formulierten Zielvorstellungen zu präzisieren und umzusetzen. In der Europäischen Sozialcharta von 1961 verpflichten sich 20 europäische Länder, das Recht auf Arbeit und auf gerechte Arbeitsbedingungen, darunter fällt auch ein bezahlter Jahresurlaub von mindestens zwei Wochen, zu gewährleisten.
 
 Arbeit und Freizeit
 
Warum werden Urlaub und Freizeit eine so herausragende Rolle für das Wohl des Individuums und der menschlichen Gemeinschaft eingeräumt? Eine Antwort darauf lässt sich nur über die Beschäftigung mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen geben. Studien zum Freizeitverhalten belegen einen engen Zusammenhang zwischen Arbeit und Freizeit, Erwerbsarbeit und Urlaub. Unter Arbeit verstehen wir im Allgemeinen eine planvolle, zweckgerichtete Tätigkeit, die ein bestimmtes Maß an individueller Anstrengung und Konzentration voraussetzt. Erwerbsarbeit hingegen umfasst die Arbeit für den Erwerb von Einkommen zum Lebensunterhalt. Freizeit ist die Zeit, in der die Menschen freiwillig oder unfreiwillig der Anforderung zu arbeiten entbunden sind: Arbeitspausen, Feierabend, Wochenende, Ruhestand, aber auch Arbeitslosigkeit. Urlaub bedeutet eine begrenzte, an ein reguläres Beschäftigungsverhältnis geknüpfte Unterbrechung zum Zwecke der Erholung. Arbeit wird gemeinhin mit Mühsal, Notwendigkeit und Pflicht identifiziert, Freizeit und Urlaub dagegen mit Lust, Freiheit und Neigung.
 
Die Vorstellung, dass es sich bei Freizeit und Urlaub prinzipiell um arbeitsfreie Zeit handelt, lässt sich nicht belegen. Angesichts der zahlreichen notwendigen Tätigkeiten, die Menschen erledigen müssen, wenn sie sich einmal nicht an ihrem Arbeitsplatz aufhalten, kann höchstens von erwerbsarbeitsfreier Zeit gesprochen werden, nicht aber von Zeit, die ausschließlich zur Erholung, Entspannung, Unterhaltung und für Hobbys zur Verfügung steht. Eine erste Antwort auf die oben gestellte Frage lautet daher: Freizeit und Urlaub sind für erwerbs- und berufstätige Menschen deshalb so wichtig, weil niemand lediglich als Erwerbs- oder als Berufstätiger existieren kann. Um unsere Antwort zu konkretisieren, sollten wir einen Blick auf die historischen Bedingungen der modernen Arbeits- und Industriegesellschaften werfen, die dazu geführt haben, dass die Menschen sich nach Urlaub und außeralltäglicher Freizeitgestaltung sehnen.
 
 Der Wandel der Lebensformen im 19. Jahrhundert
 
Die räumliche und zeitliche Einheit von Arbeits- und Familiensphäre kennzeichnet agrarisch strukturierte Gesellschaften, Urlaub ist hier kein Thema. Die Industriegesellschaften, die sich im 18. und 19. Jahrhundert in Europa und in Amerika herausgebildet haben, veränderten die Existenzbedingungen der Menschen tief greifend, sie verwirklichten die Errungenschaft der bürgerlichen Revolutionen, das Recht des Individuums auf die Selbstbestimmung seiner Arbeitskraft. Dies führte für die neu entstandenen Bevölkerungsgruppen, vor allem für die Industriearbeiterschaft, zu neuen Formen von Abhängigkeit: vom Arbeitsmarkt, vom Arbeitgeber und von der Dynamik der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Die Trennung von außerhäuslicher Erwerbsarbeit und Haus- und Familienarbeit ging einher mit der Herausbildung der Kleinfamilie, die die Ernährerrolle dem Ehemann und die nunmehr als privat angesehenen Tätigkeiten wie Hausarbeit, Kindererziehung, Betreuung hilfsbedürftiger Familienmitglieder der Ehefrau zuwies.
 
Schon bald zeigten sich vielfältige soziale Risiken: Verlust des Arbeitsplatzes, Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit und emotionale Entfremdung. In der Geschichte der Industrialisierung wurden daher gesetzliche Maßnahmen zum Schutz und Erhalt der Arbeitskraft der Beschäftigten wie beispielsweise die Begrenzung des Arbeitstags, die Garantie von Urlaubs- und Freizeit zu zentralen Verhandlungsinhalten zwischen den Interessenvertretungen von Arbeitnehmern und Arbeitgebern.
 
Die ständige Rationalisierung der Arbeitswelt setzt die Erwerbstätigen einem erheblichen und zunehmenden Leistungsdruck aus. Besonders die zeitökonomisch kalkulierte Zergliederung des Arbeitssprozesses, verbunden mit dem Akkordlohnsystem, stellt eine Entwicklung dar, die Urlaub und Freizeit als Möglichkeit, »abzuschalten« und sich zu entspannen, zu einer physischen und psychischen Überlebensfrage werden lassen. Die Hoffnung, dass die Durchsetzung der Dienstleistungsgesellschaft humanere, personenbezogene Arbeitssphären mit weniger Fremd- und mehr Selbstbestimmung schaffen würde, hat sich nicht erfüllt. Das dringende Bedürfnis, »dem stahlharten Gehäuse der Hörigkeit«, wie der Soziologe Max Weber es ausdrückte, wenigstens im Urlaub zu entfliehen, prägt die meisten »Berufsmenschen«.
 
 Urlaubsziele
 
Bis nach dem Zweiten Weltkrieg konnten sich nur die Angehörigen der vermögenden Schichten arbeitsfreie Zeit zur Entspannung oder gar Urlaub leisten. In der Weimarer Republik wurden von den Gewerkschaften umfangreiche Urlaubsregelungen ausgehandelt, viele Arbeitnehmer nutzten jedoch Freizeit und Urlaub vor allem für Haus-, Heim- und Gartenarbeiten. »Kraft durch Freude« hieß das Urlaubsprogramm der Nationalsozialisten. In der DDR enthielt die Verfassung das Recht auf Urlaub für alle Werktätigen, wofür der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes zuständig war; auch hier benutzte der Staat das Urlaubsangebot als Instrument zur Disziplinierung, Kontrolle und Propaganda. In den 50er-Jahren prägten die westdeutschen Gewerkschaften den Slogan »Urlaubsgeld erschließt die Welt«: Die Deutschen entdeckten Italien als ihr liebstes Urlaubsland. Mit steigendem Einkommen der Bevölkerung wuchs die Nachfrage nach neuen Freizeit- und Urlaubsaktivitäten. Die Pflege eines ausgefallenen Hobbys, der Urlaub in Spanien, das passende Outfit für Sport-, Sommer- oder Winterurlaub, der Kururlaub auf Sylt spiegelten den wachsenden Wohlstand wider.
 
Ende des 20. Jahrhunderts wird die gesellschaftliche Entwicklung in der Bundesrepublik durch zunehmende soziale Differenzierungen gekennzeichnet, die auch in den Wünschen der Urlauber zum Ausdruck kommen. Der organisierte Massentourismus mit seinen standardisierten Pauschalangeboten ermöglicht breiten Bevölkerungsschichten, mit geringerem Kostenaufwand Urlaubsreisen auch in ferne Länder zu unternehmen. Die Agenturen der Erlebnisgesellschaft bieten Spaß und Unterhaltung an, immer auf der Suche nach neuen, vermarktungsfähigen Produkten. Dem Massentourismus steht der Individualurlaub gegenüber, der, vollständig durchgeplant, das bestellte Maß an Exklusivität, Exotik oder Abenteuer serviert.
 
Ist damit die Frage nach der Bedeutung des Urlaubs für das Wohl des Einzelnen und der Gemeinschaft hinreichend beantwortet? Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist noch zu nennen: Das Ziel von Menschenrechtserklärungen besteht darin, jedem Menschen ein erfülltes Leben zu ermöglichen. Dazu gehört Zeit - um Erfahrungen aufzuarbeiten und das eigene Leben zu überdenken. Insbesondere das bewusste Reisen erweitert unseren Horizont. Der Philosoph Immanuel Kant, der selbst zwar nie reiste und auch kein Fernsehen zur Verfügung hatte, um fremde Länder kennen zu lernen, der aber viel las, schrieb: »Das Reisen bildet sehr; es entwöhnt von allen Vorurteilen des Volkes, des Glaubens, der Politik, der Erziehung.«
 
Prof. Dr. Christiane Bender

Universal-Lexikon. 2012.

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